Was ist Kundalini?
Jeder sollte etwas über Kundalini wissen, denn sie stellt das zukünftige Bewusstsein der Menschheit dar. Es ist der Name einer schlummernden, potenziellen Energie im menschlichen Organismus, die ihren Sitz an der Basis der Wirbelsäule hat.
Im männlichen Körper befindet sie sich im Perineum zwischen Genitalien und After und im weiblichen Körper am unteren Teil der Gebärmutter, am Muttermund. Man nennt dieses Zentrum, das tatsächlich ein physisches Gebilde ist, das Muladhara Chakra. Es ist eine kleine Drüse. Da Kundalini aber eine schlafende Energieform ist, wird sie noch lange nicht wie eine Bombe explodieren, wenn auf physischer Ebene eine Berührung stattfindet.
Wann erwacht die Kundalini?
Um Kundalini zu erwecken, musst du dich durch yogische Techniken vorbereiten. Dazu zählen Asanas, Pranayama, Kriya Yoga, Meditation und die Reinigungstechniken des Hatha Yoga. Erst, wenn der Yogi in der Lage ist, Prana zu dem Sitz von Kundalini zu lenken, löst sich die Energie und gelangt durch Sushumna Nadi im Rückenmark zum Gehirn. Während Kundalini aufsteigt, durchläuft sie jedes Chakra; jedes von ihnen ist mit verschiedenen schlafenden Bereichen im Gehirn verbunden. Das Erwachen von Kundalini wird von einer explosionsartigen Erschütterung im Gehirn begleitet und dadurch beginnen die schlafenden Bereiche wie Blumen aufzublühen.
Da wir uns jedoch alle auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden, ist es möglich, dass Kundalini bei einigen Menschen bereits Swadhisthana, Manipura oder Anahata Chakra erreicht hat, obwohl es heißt, ihr Sitz sei im Muladhara Chakra. In so einem Fall kann ein Erwachen und Aufstieg in Anahata oder einem anderen Chakra beginnen, und das ist dann nicht auf ein bestimmtes Sadhana zurückzuführen. Das Erwachen von Kundalini im Muladhara Chakra, oder in einem der anderen Chakras, ist allerdings etwas völlig anderes, als die Erweckung des Sahasrara Chakras, dem höchsten Zentrum im Gehirn.
Öffnet sich der tausendblättrige Lotos in Sahasrara, tritt ein neues Bewusstsein ein. Unser augenblickliches Bewusstsein arbeitet nicht unabhängig, denn der Verstand lebt von den Informationen, die durch die Sinnesorgane gegeben werden. Ohne Augen kannst du niemals sehen, und wenn du taub bist, kannst du nicht hören. Erwacht jedoch das höhere Bewusstsein, dann wird es möglich, Erfahrungen zu machen, die von den Sinnen ganz und gar unabhängig sind. Das ist inneres Wissen.
Wie Kundalini entdeckt wurde
Seit Beginn der Menschheit gab es Menschen, die transzendente Erscheinungen beobachteten. So bemerkten sie z. B., dass Menschen unterschiedliche Fähigkeiten hatten. Einige konnten die Gedanken anderer lesen, andere konnten in die Zukunft sehen, wieder andere erlebten, wie sich Träume verwirklichten.
Sie sannen darüber nach, warum einige Menschen inspirierende Gedichte schreiben oder wunderschöne Musik komponieren können, während andere nicht dazu in der Lage sind. Einer kann vielleicht tagelang auf dem Schlachtfeld kämpfen, während der andere nicht einmal aus dem Bett kommt. Immer wieder tauchte also die Frage auf, warum die Menschen so unterschiedlich sind.
Sie erkannten, dass in jedem Individuum eine bestimmte Energieform existiert, die bei einigen Menschen ruht, bei anderen weiter entwickelt und bei sehr wenigen Menschen schon vollkommen erwacht ist. Ursprünglich erhielt diese Energie den Namen von Göttern, Göttinnen oder Engeln. Nachdem jedoch Prana als reale Kraft erkannt wurde, nannte man sie Prana Shakti. In Tantra und Yoga heißt sie Kundalini.
Die Bedeutung der verschiedenen Namen für Kundalini
Kundal bedeutet in Sanskrit „zusammenrollen“; Kundalini bedeutet daher „die Zusammengerollte“. Das ist die geläufige Auslegung, die aber nicht ganz richtig interpretiert ist. Das Wort Kundalini entsteht aus dem Sanskritwort Kunda, „Vertiefung, Grube, Aushöhlung“. Während einer Einweihungszeremonie wird das Feuer in einem Kunda entzündet. Auch die Verbrennung eines toten Körpers findet in einem Kunda statt.
Gräbst du ein Loch oder einen Graben, so ist das ein Kunda. Kunda nennt man auch die konkave Aushöhlung, in der sich das Gehirn befindet, zusammengerollt wie eine schlafende Schlange. (Wenn du die Gelegenheit hättest, ein menschliches Gehirn zu sezieren, würdest du erkennen, wie es sich in Form einer Schlange um sich selbst windet.) Hier finden wir die eigentliche Bedeutung des Wortes Kundalini.
Kundalini ist der Begriff für Shakti oder Kraft, solange sie noch im schlafenden, potenziellen Zustand ist. Tritt sie jedoch in Erscheinung, nennt man sie Devi, Kali, Durga, Saraswati, Lakshmi oder gibt ihr einen ihrer Ausdruckskraft entsprechenden Namen.
In der christlichen Kultur verweisen die in der Bibel benutzten Begriffe „Pfad der Eingeweihten“ oder „Siebenstufige Leiter zum Himmel“ auf den Aufstieg von Kundalini durch Sushumna Nadi.
Sowohl der Aufstieg von Kundalini, wie letztlich auch das Herabkommen des spirituellen Segens, wird durch das Kreuz symbolisiert. Deshalb machen Christen das Zeichen des Kreuzes in Höhe von Ajna, Anahata und Vishuddhi Chakra. Ajna ist das Zentrum, in dem das augenblickliche Bewusstsein überschritten wird; Anahata ist das Zentrum, in dem der herab kommende Segen für die Welt sichtbar wird.
Was auch im spirituellen Leben geschieht, es kann stets mit dem Erwachen von Kundalini in Beziehung gesetzt werden. Das Ziel jedes spirituellen Lebens ist das Erwachen von Kundalini, ob man es Samadhi, Nirwana, Moksha, Kommunion, Vereinigung, Kaivalya oder Befreiung nennt.
Kundalini, Kali und Durga
In dem Moment, wenn Kundalini erwacht und noch nicht zu bändigen ist, nennt man sie Kali. Wenn du in der Lage bist, diese Energie für einen guten Zweck einzusetzen und dadurch außergewöhnliche Kräfte erlangst, dann ist ihr Name Durga.
Kali ist eine weibliche Gottheit, nackt, schwarz oder rauchfarben, eine Mala mit 108 menschlichen Schädeln tragend. Damit symbolisiert sie die Inkarnationen, die ein Individuum zu durchlaufen hat. Kalis heraushängende, blutrote Zunge ist Zeichen für Rajo Guna, deren kreisende Bewegung die Triebkraft für alle schöpferischen Aktivitäten ist. Durch diese Geste ermuntert sie alle Sadhakas, ihr Rajo Guna zu bändigen.
Das geheiligte Schwert und der kahle Totenschädel in ihrer linken Hand sind Symbole der Auflösung. Dunkelheit und Tod bedeuten ganz und gar nicht Abwesenheit von Licht und Leben, sondern sind ihr Ursprung. Der Sadhaka verehrt die kosmische Kraft in weiblicher Form, weil sie den kinetischen Aspekt repräsentiert. Der Aspekt des Männlichen ist statisch und kann nur durch die kinetische Kraft aktiviert werden.
In der hinduistischen Mythologie wird detailliert beschrieben, wie Kali in Erscheinung tritt. In dem Moment, wenn sie sich in glühendem Zorn erhebt, erstarren alle Götter und Dämonen. Sie verharren schweigend und warten gebannt auf das, was sie als Nächstes tun wird. Sie flehen Shiva an, sie zu beruhigen, aber Kali brüllt nur wütend, wirft ihn nieder, stellt sich mit weit geöffnetem Mund, nach Fleisch und Blut dürstend, auf seine Brust. Erst, wenn die Devas für Kali beten, beruhigt sie sich.
Nun erst kann sich Durga zeigen – als Symbol für höhere, feinere, göttliche Qualitäten, die im Unbewussten ruhen. Durga sitzt als wunderschöne Göttin auf einem Tiger. Sie hat acht Hände, Symbol für die achtfachen Elemente des Menschen. Sie trägt als Zeichen ihrer Weisheit und Kraft eine Mala mit menschlichen Köpfen.
Die Mala besteht aus zweiundfünfzig Köpfen, das ist die Anzahl der Buchstaben im Sanskrit Alphabet. Es ist die äußere Erscheinung von Shabda Brahman, „die Welt des Klanges“. Durch Durga werden alle schlechten Einflüsse im Leben entfernt, Kraft und Frieden steigen aus dem Muladhara Chakra empor.
In der Yoga Philosophie ist Kali als erstes Auftreten der unbewussten Kundalini eine schreckliche Kraft. Die individuelle Seele wird von dieser Kraft vollkommen unterdrückt, was dadurch symbolisiert wird, dass sie auf Shiva steht. Bei mentaler Unausgeglichenheit kann es geschehen, dass Menschen, die mit ihrem Unbewussten in Berührung kommen, furchterregende Wesen sehen wie Geister oder Monster. Wenn Kali als die unbewusste Kraft des Menschen erwacht ist, geht sie allmählich in die nächste Ausdrucksform über, und das ist Durga. Es ist das höchste Bewusstsein und zeigt sich als Glanz und Schönheit.
Symbole für Kundalini
In den tantrischen Schriften wird Kundalini als Urkraft oder Energie beschrieben. In der modernen Psychologie wird sie das Unbewusste genannt. In der Hindu Mythologie korrespondiert Kundalini mit dem Kali Konzept, wie vorher schon erläutert, während Kundalini im Shaivismus durch den Shivalingam dargestellt wird. Es ist ein oval geformter Stein, um den sich eine Schlange windet.
Meistens ist Kundalini allerdings als schlafende Schlange mit dreieinhalb Windungen abgebildet. Natürlich gibt es weder in Muladhara noch in Sahasrara oder in einem der anderen Chakras eine Schlange. Die Schlange war schon immer ein Symbol der Weisheit. In den ältesten mystischen Kulturen der Welt finden wir die Schlange, und auch Shiva wird auf allen Bildern und Statuen mit Schlangen um Taille, Hals und Arme dargestellt.
Auch Kali ist mit Schlangen geschmückt und Vishnu ruht auf einer riesigen, zusammengerollten Schlange. Diese Schlangenkraft symbolisiert das Unbewusste im Menschen. In vielen verschiedenen Zivilisationen der Welt finden wir Monumente und Kunstwerke mit Darstellungen der Schlangenkraft, u. a. auch in Europa, Lateinamerika und dem Mittleren Osten. Das bedeutet, dass Kundalini den Menschen in allen Teilen der Welt einstmals bekannt war. Im Grunde genommen können wir Kundalini in jeder beliebigen Form wahrnehmen, denn Prana ist unendlich, ohne Form und ohne Dimension.
Die traditionellen Schriften beschreiben das Erwachen von Kundalini folgendermaßen: Als zusammengerollte Schlange ruht sie in Muladhara. Wenn sie erwacht, entrollt sie sich und schießt durch Sushumna (dem psychischen Gang im Rückenmark), und öffnet auf ihrem Weg die anderen Chakras. Brahmachary Swami Vyastev beschreibt das Erwachen von Kundalini in seinem Buch Science of the soul folgendermaßen:
„Sadhaks haben Sushumna als leuchtende Säule, als goldgelbe oder manchmal als eine schwarz glitzernde Schlange gesehen, etwa fünfundzwanzig Zentimeter lang, mit glühend roten Augen, vibrierender Zungenspitze, im Rückenmark blitzartig nach oben steigend.“
Die dreieinhalb Windungen der Schlange kann man folgendermaßen auslegen. Drei Windungen verweisen auf die drei Matras von Aum, in denen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausdrücken; außerdem auf die drei Gunas – Tamas, Sattwa und Rajas; auf die drei Bewusstseinsebenen – Wachsein, Träumen und Tiefschlaf; auf die drei Arten der Erfahrung – subjektive Erfahrung, sinnliche Erfahrung und Abwesenheit von Erfahrung.
Die halbe Windung repräsentiert den Zustand der Transzendenz, in dem es weder Wachsein, noch Träumen, noch Tiefschlaf gibt. Die dreieinhalb Windungen sind Ausdruck dafür, dass das ganze Universum erkannt werden und das Bewusstsein noch darüber hinausgehen kann.
Wer kann Kundalini erwecken?
Es gibt viele Menschen, die Kundalini in sich erweckt haben. Es sind nicht nur Heilige und Sadhus aus verschiedenen Traditionen, auch große Dichter, Schriftsteller, Maler oder Feldherren sind Beispiele dafür, dass jeder diese in ihm ruhende Kraft erwecken kann. Mit diesem Ereignis entsteht nicht nur das Bild des Göttlichen, sondern eine kreative Intelligenz macht sich bemerkbar und supramentale Fähigkeiten erwachen. Durch die Aktivierung von Kundalini lässt sich alles im Leben erreichen.
Wenn auch die Kundalini Kraft von einer einzigen Energie gebildet wird, drückt sie sich doch durch die individuellen Energiezentren, die Chakras, ganz unterschiedlich aus; zuerst in einer gröberen, instinktiven Art, dann, mit mehr Übung, allmählich auf immer subtilere Weise. Das Verfeinern der Ausdruckskraft dieser Energie auf höhere und subtilere Schwingungsebenen ist Zeichen für den Aufstieg des menschlichen Bewusstseins bis zu seiner höchsten Vollendung.
Kundalini ist die kreative Energie des Selbstausdrucks. Ebenso wie durch die Fortpflanzung ein neues Leben erschaffen wird, so hat z. B. Albert Einstein diese Energie auf andere, subtilere Art genutzt, um die Relativitätstheorie zu entdecken. Sie drückt sich auch darin aus, dass jemand schöne Musik komponiert oder spielt. Sie bringt sich in jedem Bereich des Lebens zum Ausdruck, ob du ein Geschäft aufbaust, die Familienpflichten erfüllst, oder dein Ziel erreichst, was immer es sein mag. Das alles sind Ausdrucksformen dieser kreativen Energie.
Das Erwachen von Kundalini ist das einzige Ziel der menschlichen Inkarnation, egal ob du im weltlichen Leben stehst oder Sannyasin bist. Alle Sinnesfreuden, die wir jetzt genießen, und alle Widrigkeiten des Lebens haben nur den einen Sinn, Kundalini aus ihrem Schlaf wachzurütteln.
Ein Prozess der Metamorphose
Mit dem Erwachen von Kundalini entsteht eine Transformation im Leben. Sie hat sehr wenig mit moralischen, religiösen oder ethischen Anschauungen zu tun. Man kann sie eher als eine veränderte Qualität unserer Erfahrungen und Wahrnehmungen bezeichnen. Durch das Erwachen von Kundalini verändern sich deine Geisteshaltung und auch deine Interessen.
Deine ganzen Karmas durchlaufen eine Wandlung. Dafür gibt es ein einfaches Beispiel. Als du ein Kind warst, hast du Spielzeug geliebt. Warum hast du jetzt kein Interesse mehr daran? Dein Geist und dein Verstand haben sich verändert und damit auch deine Interessen. Mit dem Erwachen von Kundalini entsteht eine Metamorphose, die sogar den ganzen physischen Körper neu strukturieren kann.
Wenn Kundalini erwacht, verändert sich der physische Körper tatsächlich in vielfältiger Form. Meistens sind diese Veränderungen positiv, aber wenn dein Guru oder Lehrer nicht achtsam ist, können sie auch negativ sein. Steigt die Shakti Energie auf, werden die Körperzellen vollkommen neu aufgeladen, und damit setzt ein Prozess der Verjüngung ein. Die Stimme, der Körpergeruch, die Hormonausschüttung, all das verändert sich. Der Stoffwechsel der Zellen in Körper und Gehirn erfolgt sehr viel schneller als normal. Dieses sind nur einige Beobachtungen. Forschung und Wissenschaft beginnen gerade erst, Einblick in dieses weite Feld zu nehmen. Eine einfache Anleitung oder Ausbildung dafür gibt es nicht.
Warum muss Kundalini erweckt werden?
Willst du mit Kundalini Yoga beginnen, sind die Beweggründe oder das Ziel von größter Wichtigkeit. Sind es für dich nur die übernatürlichen Kräfte, die du erlangen willst, dann wirst du Schwierigkeiten über Schwierigkeiten hervorbringen.
Ist es aber deine Absicht, Shiva und Shakti zu vereinigen – die beiden großen Kräfte in dir – wenn du Samadhi erlangen und das Absolute im Kosmos erfahren willst, wenn du die Wahrheit hinter der Welt der äußeren Erscheinungen verstehen möchtest, wenn das Ziel deiner Pilgerreise also sehr hochgesteckt ist, dann wird dich nichts aus deiner Bahn werfen.
Mit dem Erwachen von Kundalini können die Naturgesetze anders gehandhabt und die physische, mentale und spirituelle Evolution beschleunigt werden. Ist sich der Mensch dieser mächtigen Shakti Kraft bewusst, dann betrachtet er sich nicht mehr als den nur grobstofflichen Körper, der auf niederer geistiger Stufe und niedrigem Energieniveau arbeitet. Stattdessen ist jede Zelle seines Körpers mit der hohen Schwingungskraft von Kundalini aufgeladen. Und wenn das Erwachen vollkommen ist, dann wird der Mensch eine Verkörperung des Göttlichen.
Quelle: Aus Kundalini Tantra von Swami Satyananda Saraswati