Über Brahmacharya
Im ersten Beitrag zum Jahresthema 'Brahmacharya' hat Eckard Wolz-Gottwald schon das notwendige Hintergrundwissen geschaffen, so daß ich mich gleich mitten hinein begeben kann. Mein Beitrag wird durch meine Tradition geprägt sein, bzw. durch persönliche Erfahrung und dem, was ich von meinem Guru, Paramahamsa Satyananda, direkt oder indirekt vermittelt bekam.
Schon sehr früh auf meinem Yogaweg war ich von der Tatsache tief beeindruckt, daß die 5 Yamas und die 5 Niyamas fast identisch mit unseren 10 Geboten sind. Die Yamas und die Niyamas sind nur sehr viel klarer definiert. Aber auch in anderer Hinsicht unterscheiden sie sich: Wir begegnen ihnen erst, wenn wir eine bestimmte Reife erlangt haben und wenden uns ihnen freiwillig zu. Die 10 Gebote dagegen müssen wir in einem Alter lernen, in dem wir nicht einmal verstehen, was wir da lernen, und sicher erscheinen sie dann oft grotesk - 'Du sollst nicht begehren eines andern Weib, Kind, Knecht, Hof' usw..
Das Sutra lautet: 'Brahmacharyapratishhayam viryalabhah', was folgendermaßen übersetzt werden kann: 'Wenn man im Göttlichen wandelt, erlangt man große Kraft.' Brahmacharya ist das vierte der fünf Yamas, der Disziplinen, die wir uns auferlegen, um uns in Beziehung zur äußeren Welt yogisch zu verhalten. Alle Yamas stehen eng miteinander in Beziehung. Der Wandel im Göttlichen ist daher sicher nicht auf die Sexualität beschränkt, sondern umfaßt alles Denken und Handeln. Weil aber die sexuelle Energie eine so immense Kraft ist, die unser ganzes Leben beeinflußt, wird wohl hier besonders darauf hingewiesen, daß es wichtig ist, diese Energie zu zähmen, ohne sie zu vernichten. Etwas unter Kontrolle zu haben ist nicht dasselbe wie Unterdrücken. Es bedeutet vielmehr, daß wir der Kraft nicht einfach nur ausgeliefert sind, sondern sie auch gleichzeitig als solche sehen und erkennen können.
Virya bedeutet auch Samen, und es heißt, daß für einen Tropfen Samenflüssigkeit vierzig Tropfen Blut benötigt werden. Zwischen körperlicher und spiritueller Energie besteht ein enger Kontakt. Um allerdings das spirituelle Potential zu erwecken, muß physische Energie konserviert werden und daraus entsteht Ojas. Ojas kann von einem geübten Yogi derart nach innen gelenkt werden, daß ihm daraus eine große Kraft erwächst.
Mit 'Yoga chitta vritti nirodaha' beginnt Patanjali die Beschreibung des Yogaweges. Die Kontrolle über die Bewußtseinsmuster zu erlangen, sie aufzulösen, mit der Natur eins zu werden, Einswerden, Ganzwerden, Heilwerden. Nicht den Mustern, den vrittis, blind ausgeliefert sein. Und dann fährt er fort, diesen Weg zu beschreiben. Es ist ein langer Weg. Zuerst ist es ein gelegentliches Gewahrwerden, ein Erkennen. Dann folgt die Analyse - 'Woher kommen die Vrittis, wo haben sie ihren Ursprung?' Jedes Vritti erzeugt Wellen auf dem eigentlich ruhigen Bewußtseinsmeer. Erst, wenn wir die Vrittis aufgelöst haben, die Muster, die zu Angst, Kampf und Gespaltensein führen, kann unser Bewußtseinsmeeresspiegel ruhig und klar werden. Jetzt erst können wir Energien lenken oder umlenken und den Zustand des Einsseins erleben.
Aus tantrischer Sicht
Mein Guru ist ein tantrischer Guru, und in Tantra sind alle Lebensaspekte bei der Persönlichkeitsentwicklung mit eingeschlossen. Auch die Sexualität. Das sollte aber nicht dazu verleiten, zu glauben, alles im Leben trüge zur Weiterentwicklung bei. Das, was wir nicht bewußt tun oder denken, müssen wir immer und immer wieder wiederholen. Meistens ist es der Schmerz, der uns dann endlich bewußt macht. Tantra besteht aus zwei Wortwurzeln: Tanoti und trayati. Es ist die Ausdehnung des Bewußtseins und die Freisetzung der blockierten Energie. Es geht also darum, uns alles, was wir im Leben tun und was wir denken und fühlen, bewußt zu machen, denjenigen zu erkennen, der bei allem zuschaut. Das ist die Basis, und nun kommt die Frage des 'Wie'. In allen möglichen Lebensaspekten wollen wir Experten werden, sind bereit, zu studieren, zu lernen, uns Hilfe geben zu lassen. Eine Ausnahme bildet allerdings die von der christlichen und auch anderen Kirchen tabuisierte Sexualität. Mit ungeheurer Kraft dringt sie in unser Leben, und unvorbereitet sind wir ihr völlig ausgeliefert. Vernünftig mit ihr umzugehen, lernen wir meistens nicht.
Noch heute gibt es alte überlieferte Übungen, die Kindern im Alter von 8 Jahren vermittelt werden, um gerade in diesem Alter, wenn sich durch die in diesem Alter eintretende Degeneration der Zirbeldrüse die Phantasie des Kindes allmählich trübt, die Fähigkeit des Zuschauens, des Beobachtens der Phänomene im körperlichen und seelischen Bereich, zu entwickeln. Diese Übungen sind: Surya Namaskara, Nadi Shodhana Pranayama und das Rezitieren des Gayatri Mantras. Auf diese Weise wird der Übergang zur Pubertät erleichtert. Weiterhin gehören die Übungen Vajroli Mudra und Sahajoli Mudra aus dem Hatha Yoga dazu, auf das sexuelle Leben vorzubereiten. Über die Zusammenhänge ist nicht nur im Westen wenig bekannt, aber ein Meister kann Licht darauf werfen.
Bleiben wir dieser größten Energieform ausgeliefert, drückt sie sich durch die Sexualität im normalen Geschlechtsverkehr aus. Können wir sie zähmen, wird aus dieser Lebenskraft 'Ojas', spirituelle Energie. Nur mit der verfeinerten Energie läßt sich Kundalini durch den Geschlechtsverkehr erwecken, nicht aber durch den Akt, der nach sinnlicher Befriedigung sucht. Laut Yoga gibt es drei Motive für den Geschlechtsakt: Das Verlangen nach sinnlicher Befriedigung, das Verlangen nach Fortpflanzung und das Verlangen nach höchster Verwirklichung.
Die hinter allen Phänomenen liegende Energie
Die Meister lehren uns, daß wir durch alle Erfahrungen hindurchgehen müssen. Sexuelle Vereinigung zwischen Mann und Frau ist Teil des natürlichen Evolutionsverlaufs, durch sie entsteht Leben, Energie. Nicht die Körper sind entscheidend, sondern die gegenpoligen Energien. Sie verursachen Schöpfung, Freisetzung von Energie, und daraus kann Umgestaltung erfolgen. Solange wir nicht die Bedeutung von Energie in unserem Leben begreifen, können wir diesen Aspekt der Energieerzeugung nicht nachvollziehen. Abstinenz von Sex ist daher sicher nicht mit Brahmacharya gemeint. Das Erkennen und dann die Zähmung der Energie läßt sich nicht ohne Übung und nicht an einem Tag erreichen. Viele yogische Übungen gehören dazu, auch die Yamas und die Niyamas.
Dann erst kommen tantrische Übungen ins Spiel, bei denen Mann und Frau sich vereinigen, um eine höhere Erfahrungsebene zu betreten. Paramahamsa Satyananda sagt dazu: 'Es gibt zwei Arten von Tantra. Das eine ist Yoga, hierzu gehört Entsagung, Selbstdisziplin, Askese und ein starker Wille. Er ist für Menschen gedacht, die gut darauf vorbereitet sind. Die andere Art ist für Menschen, die sich durch das normale Lebensterrain bewegen.' Er macht damit deutlich, daß sich die meisten Menschen, die Yoga praktizieren oder lehren, eigentlich auf dem Tantraweg befinden. Dieser Weg lehrt uns inneres Umweltbewußtsein, Ökologie in unserem eigenen Körper. Wie außen geht es auch im Inneren darum, die Energieressourcen nicht zu vergeuden. Die vier Lebensstufen der Veden haben auf diesem Hintergrund Bedeutung und Namen erhalten: Brahmacharya Ashrama, Grihashta Ashrama, Vanaprashta Ashrama und Sannyasa Ashrama.
Wenn die Sexualität uns zwingt, schwach entwickelte oder blockierte Teile unserer Persönlichkeit durch den anderen Pol auszugleichen, dann sind wir dem ausgeliefert, und wir werden uns davon abhängig fühlen. Eine von verschiedenen Auslegungen des Begriffes 'Hatha Yoga' ist es jedoch, Ha und Tha, Sonne und Mond, die männliche Kraft und die weibliche Kraft in uns selbst zu harmonisieren. Daraus entsteht die vollkommene, heile Persönlichkeit. Ein solcher Mensch kann eine sexuelle Verbindung eingehen, muß es aber nicht. Er ist Meister seines Selbst.
Die Lehrzeit
Um diesen Zustand zu erreichen, gibt es die Lehrzeit. Im Laufe der Geschichte hat es viele Formen der spirituellen Lehrzeit gegeben, aber irgendwie ähneln sie sich alle. Ein Weg ist der des Sannyasin, der mit seinem Guru für eine bestimmte Zeit im Ashram lebt. Ashramleben ist nicht vergleichbar mit Klosterleben, denn beide Geschlechter sind vertreten und leben auf engstem Raum miteinander, es gibt also kein Ausklammern des anderen Geschlechts, kein Negieren. In unserem Ashram in Munger haben sich auch Ehepaare diesem Training unterzogen. Unter der Führung des Guru haben sie die Möglichkeit, sich getrennt voneinander innerlich zu harmonisieren und zu stabilisieren, um sich als zwei selbständige Menschen wieder zu begegnen. Die Abhängigkeit voneinander gibt es dann nicht mehr, und der Weg ist frei, um der Menschheit zu dienen - seva und karuna. In diesem Moment erfolgt die Einweihung in 'Rishi Sannyasa'.
Von den alten Rishis und Weisen sagt man, daß sie in Partnerschaften gelebt und trotzdem oder gerade deshalb die Erleuchtung erlangt haben. Sie haben die vielen yogischen und tantrischen Übungen ausprobiert und sie der Menschheit hinterlassen. Sie waren für mich keine grauen, verbitterten Asketen, sondern lebensfrohe, heile Menschen, die die Schönheit des Dienens erkannt und erfahren haben.
Begriffe wie 'Zölibat' oder 'Keuschheit' assoziiere ich mit gewaltsamem Abtrennen, mit Strafe bei Nichteinhaltung. Und dahinter verbirgt sich für mich die Vorstellung der Erbsünde. Auf dem Yogaweg versuchen wir mühsam, uns von dem Komplex 'Schuld und Sünde' zu befreien. Wir müssen daher vermeiden, dem gleichen Übel, durch ein Hintertürchen wieder Einlaß zu gewähren, nun unter dem Namen 'Brahmacharya'
Die Lebensstufe Vanaprashta Ashrama
Was ist mit den Gedanken? Kann jemand frei sein von sexuellen Gedanken, Wünschen, Phantasien? Der Meister sagt uns, das wir uns auch dessen gewahr werden sollen, ohne Wertung, ohne Spaltung. Mein Guru, Paramahamsa Satyananda, hat eine alte Form der Einweihung wieder lebendig werden lassen, und das ist Karma Sannyasa. Es entspricht der Lebensstufe von Vanaprashta Ashrama. Es ist die Stufe, auf der man beginnt, alles, was im eigenen Leben geschieht, wertfrei zu beobachten. Das kann im Familienleben sein, in der Partnerschaft, im Beruf. Er hat Tausende auf dieser Ebene eingeweiht. Wer sich hier sehr weit entwickelt, möchte vielleicht eines Tages den Sannyasa Weg gehen oder den Rishi Sannyasa Weg. Beide haben als einziges Motiv nur noch das Dienen und die Hingabe an das Göttliche - 'Brahmacharya' - Das Wandeln im Göttlichen, ein göttliches Gefäß, ein Werkzeug Gottes werden.
Ich glaube tatsächlich, daß die Regeln des Patanjali für alle Menschen auf unserer Erde gelten, wenn sie zu ihrer inneren Göttlichkeit, zu ihrem wahren Selbst vorstoßen wollen und daß sie unabhängig von Geburt, Ort und Zeit sind. Aber gleichzeitig haben wir auch die Wahl und können das Wie und das Wann selbst bestimmen.
Nature controls. Man should witness & experience
Diese Worte schrieb mir Paramahamsa Satyananda vor vielen Jahren. Seitdem haben sich für mich immer mehr Puzzleteilchen zusammengefügt, und ich begreife allmählich, was er mir sagen wollte. Wir menschlichen Wesen sind Teil des Göttlichen, aber wir sind auch Teil der Natur. Auf dem Yogaweg wollen wir nicht neue Menschen aus uns machen, sondern unsere wahre Existenz, unsere wahre Natur erkennen. Wer bin ich? Um dieser Frage nachzugehen, müssen wir Fehler machen und Schmerz ertragen. Für den Yogi gibt es jedoch nur eine Sünde: Etwas zu tun oder zu denken, was unserer Entwicklung und unserem spirituellen Nachhausekommen im Wege steht.
(Aus: Zeitschrift YogaForum April/1996 des BDY (Bund Deutscher Yogalehrer)) - von Swami Prakashananda Saraswati - Brombachtal, April 1996