Kinder sollten nur eine einzige Botschaft bekommen: "Steh auf und tu!" Nicht ein einziger Moment sollte mit nutzlosem Trachten vertan werden. Sie müssen abenteuerlustig und unternehmungsfroh werden. Wie lange können sie von jemand abhängig sein? Hilf ihnen, dass sie ihre Willenskraft stärken, sich für etwas Endgültiges entscheiden und sich dann Tag und Nacht da hineinstürzen. Das Leben verträgt keinen Aufschub. Tod ist eine Herausforderung, eine Warnung, ein Ruf, mit den Realitäten des Lebens fertig zu werden; diese Realitäten sind sehr aufregend, sehr romantisch und so neu!
Wenn ein Kind zur Welt kommt, bringt es dreierlei Samskaras mit. Erstens trägt es Karmas aus vergangenen Inkarnationen; zweitens die von seinen Eltern, und drittens die aus der Umgebung. Aus diesen Quellen hat es genug, um seine Karmas zu entwickeln, wachsen zu lassen, aufzubauen, zu zerstören oder zu vervielfältigen.
Eltern sind sicher ein wichtiger Faktor und Elternschaft ist ganz sicher eine bedeutende Lebensstufe. Kinder lieben die Freiheit - gib ihnen Freiheit. Kinder möchten sich nach ihren eigenen Vorstellungen entwickeln - gib ihnen die Möglichkeit. Versuche nicht, sie etwas anderes werden zu lassen. Wenn sie spielen möchten, lass sie. Wenn sie lesen möchten, lass sie. Wenn sie essen möchten, lass sie. Ob sie sich gut oder schlecht kleiden möchten; ob sie schreien, weinen oder leise sein möchten; ob sie sich auf dem Boden wälzen möchten - lass sie tun, was sie möchten.
Versuche nicht, sie sein zu lassen, wie du. Du gibst ihnen einige Spielsachen und sagst ihnen: "Sei brav, benimm dich gut, schrei nicht, sei anständig." Etikette, Manieren, Kultur. Nein! Du belästigt sie mit diesen Dingen zu früh. Wenn sie 19 oder 20 Jahre ihres Lebens hinter sich haben, dann kannst du ihnen sagen, wie sie sich benehmen sollen. Was ist Etikette, was sind Manieren für ein Kind von fünf Jahren? Mein Gott, du mordest sie, indem du ihnen deine Philosophie aufdrückst!
Was für dich richtig ist, ist für sie nicht richtig. Wenn dein Kind fünf Jahre alt ist, bist du mindestens 25 oder 30 Jahre älter. Was ist der Unterschied? Ein Abstand von mindestens 25 Jahren zwischen dir und dem Kind. Das, was du sprichst, ist vom Geisteszustand her 25 Jahre von dem deines Kindes entfernt. Du bist schon weit gereist. Ich bin 60, was kann ich einem 10-jährigen Kind beibringen? Ich weiß nicht, wie es denkt. Wenn wir Kinder etwas lehren wollen, müssen wir werden wie Kinder, denken wie Kinder, nur dann können wir das.
Noch etwas Wichtiges: Kinder von 5-10 Jahren oder auch älter, sollten immer mit Gleichaltrigen zusammenleben. Du kannst sie nur beschützen, versorgen, führen. Du kannst ihnen kein Lehrer sein, weil du zu alt für sie bist. Du kannst ihnen ein hübsches Zimmer einrichten, Bücher und dies und jenes besorgen, aber das ist auch alles! Lass sie mit Gleichaltrigen zusammen sein. Lass sie kämpfen und sich schlagen; lass sie schreckliche Dinge sagen und miteinander diskutieren, wie immer sie möchten; lass sie lesen oder nicht lesen. Natürlich musst du sie laut Gesetz zur Schule schicken, aber ansonsten mache dir keine Gedanken um deine Kinder.
Sie sind mit ihrer eigenen Lebensversicherung gekommen, ihrem eigenen Karma, sie sind mit allem ausgerüstet. Sie haben ihr eigenes Schicksal, ihre eigene Zukunft, alle körperlichen, mentalen, emotionalen, philosophischen und spirituellen Wachstumsmöglichkeiten. Wenn dein Kind philosophisch reden möchte, dann lasse es. Das bedeutet, wenn du nicht willst, dass dein Kind von deinen eigenen Persönlichkeitskonflikten belastet wird, dann ist das einzige, was du tun kannst (und du solltest es in jedem Fall tun, denn jeder hat seine Konflikte), ihm eine freie Atmosphäre zu geben. Wenn es sich vollkommen frei fühlen kann, dann wirst du später merken, dass dein Kind deine guten Karmas übernommen hat, aber deine Persönlichkeitskonflikte hat es nicht übernommen. Es entwickelt sich vollkommen anders als du, was die Lebensäußerung betrifft.
Dies ist sowohl in den westlichen als auch in den östlichen Ländern ein sehr heikles Thema. Ich bin schon müde, immer wieder darüber zu sprechen, denn ihr versteht nicht. Ihr versteht nicht, weil Kinder für euch euer Spielzeug sind. Auf sie habt ihr eure Neurosen gepackt; auf sie häuft ihr alle eure Eigenheiten, eure Verrücktheiten. Ihr schaut sie an und wisst nicht, warum ihr sie zur Welt gebracht habt. Ihr kennt den Sinn nicht. Ihr nennt es Liebe, aber es ist keine Liebe; es ist Neurose, und ich möchte sagen, dass die meisten Eltern neurotisch sind.
Wenn dein Kind nicht in die Kirche möchte, zitterst du und sagst: "Mein Gott! Mein ganzes Leben habe ich auf die Bibel vertraut; ich habe Christus und der Kirche vertraut; nicht einen Sonntag habe ich ausgelassen. Dieses Kind spricht solchen Unfug 'Wo ist Gott?'. Es ist nicht mein Kind. Das kann nicht mein Sohn sein, er ist nicht wie ich!" Und du bist ständig über ihn verärgert.
Weil du Katholik oder Protestant oder Hindu bist, soll dein Kind ebenfalls Katholik oder Protestant oder Hindu werden. Weil du Yoga machst, soll dein Kind ebenfalls Yoga machen. Weil du dich so kleidest, soll dein Kind sich auch so kleiden. Wenn es möchte, lasse es. Wenn es eine Yogaklasse im Ashram besuchen möchte, du magst den Platz aber nicht, lasse es trotzdem dorthin gehen, denn seine Wahl muss respektiert werden, nicht deine Wahl. Wenn du sein Vater oder seine Mutter bist, ist es auch dein Kind. Wer ist besser, höher? Sage es mir. Wer ist übergeordnet? Wer ist größer? Wer ist wichtiger, dein Kind oder du? Du kannst nicht sagen, dass du wichtiger bist. Dein Kind ist wichtiger, und du weißt es, möchtest es aber nicht wahrhaben.
Das ist ein großes Problem in der ganzen Welt, und ich glaube, ich kann keinen besseren Rat geben als diesen: Lasse deine Kinder mit der Natur leben; lasse sie denken, wie sie möchten, essen, was sie möchten, sagen, was sie fühlen; lasse sie glauben oder nicht glauben. Lasse sie Yoga oder Bhoga machen. Lasse sie Hindus, Christen oder Moslems sein oder gar keine Religion haben. Wenn sie in einer neuen Welt leben möchten, dann gib ihnen totale Freiheit, so dass sie sich ihren eigenen Lebensstil formen und aufbauen können.
So oft kann man in den Zeitschriften Artikel lesen wie 'Die neue Welt`, 'Der neue Weltorden`. Ein neuer Weltorden mit diesem alten Plunder? Wir sind verrottetes altes Zeug, indoktriniert von unseren Eltern, Sklaven unserer Philosophie. Wir folgen ihnen. Der Weg, den wir gehen, ist nicht unser eigener Weg. Wir gehen in ihren Fußspuren. Lasst unsere Kinder anders sein!
Ein oder zwei Generationen wird Anarchie sein, Durcheinander, Verwirrung - Kinder, die ihre eigenen Sachen machen, Fußball mitten auf der Straße spielen, und wild hupende Autos, so wie in Indien. Aber nach drei oder vier Generationen wird sich alles von allein verändern, eine neue Evolution wird einsetzen, und der neue Weltorden wird spontan, selbst erschaffen und kollektiv sein. So ein Weltorden ist kein von der Regierung gelenkter Orden. So etwas kann nicht durch Regierungen entstehen; Gesellschaft und Recht schaffen es nicht und Religionen erst recht nicht. Wir werden ganz einfach so leben, und das ist 'Der Himmel auf Erden'. Ist Yoga gleichbedeutend mit Rückzug aus dem Leben? Macht uns Yoga egoistisch, introvertiert und entfernt uns dem christlichen Leben?
(Aus: Yoga Heft Nr. 5) - Swami Satyananda Saraswati