Was sind Mudras?
Uns allen ist die Grazie und Schönheit bekannt, die in den Statuen von Heiligen des Altertums zum Ausdruck kommen. Ihre Erleuchtung drückt sich in ihren Gesichtern, ihre Haltung und den Mudras, den Gesten ihrer Hände aus. Ja, ihr ganzes Wesen ist ein Mudra, eine Geste, ein Symbol ihres Bewusstseinszustandes. Für den Yogaschüler sind Mudras Techniken, die das Nerven- und Drüsensystem aktivieren, sodass in uns schlummernde psychische Kraftzentren sich öffnen können und Kundalini, die latente potenzielle Energie des Menschen aufsteigen kann. Auf diese Weise verwandelt sich unser Bewusstsein in kosmisches Bewusstsein.
Das Wort Mudra bedeutet im Sanskrit einerseits verschließen, und andrerseits bedeutet es Geste, Symbol, Ausdruck von... Mudras werden in drei verschiedenen Formen benutzt:
- Im klassischen indischen Tanz als Tiersymbole, als Bewusstseinszustand, Gefühle usw.
- In rituellen Hindu Zeremonien
- In Tantra, um die Evolution durch das Öffnen von Energieleitungen in den Geweben, Nervenleitungen und Organen des Körpers voranzutreiben.
Mudras sind Gesten, die wir von innen her akzeptieren und sich selbst zum Ausdruck bringen. So kann der Geist verschiedene Figuren oder Yantras annehmen, die durch tiefe und archetypische Energie hinter den Mudras in den Tiefen des Geistes erzeugt werden. Dieser letzte Aspekt beschäftigt uns meistens.
In den alten Shastras gibt es viele Referenzen hinsichtlich Mudras. So heißt es z. B. in der Shiva Samhita (IV 12-15):
Nun werde ich dir erklären, wie man in Yoga am meisten Erfolg hat. Du solltest dies als ein Geheimnis betrachten. Es ist der Yoga, der unzugänglich ist. Wenn die schlafende Göttin Kundalini durch die Gnade des Gurus erwacht, werden alle Lotusblüten und Bänder durchdrungen. Es ist deshalb wichtig, wenn man die Göttin erwecken will, die in der innersten Höhle von Sushumna, dem Mund von Brahmarandhra schläft, dass man sehr vorsichtig vorgeht. Von den vielen Mudras sind die besten: Mahamudra, Mahabandha, Mahabheda, Khechari, Jalandhara, Mula Bandha, Vipareeta Karani, Uddiyana, Vajroli und Shakti Chalini.
In den tantrischen Schriften heißt es, dass Lord Shiva wahrscheinlich der Erste war, der Mudras angewendet hat. Diese Schriften beschreiben hunderte von verschiedenen Mudras. Von diesen hat Yoga annähernd fünfundzwanzig herausragende Mudras verwendet, auf die auch in den Hatha Yoga Schriften, wie in der Gherand Samhita und der Hatha Yoga Pradipika, Bezug genommen wird.
Mudras im heutigen Leben
Die oben genannten Techniken sind in Kriya Yoga integriert, so wie sie von unserem Guru Swami Satyananda Saraswati in der Bihar School of Yoga gelehrt werden. Kriya Yoga ist ein praktischer, systematischer und wirkungsvoller Weg, um unsere schlummernden Potenziale durch Erwecken des neuronalen Kreislaufs im Hirn zu erwecken; wir laden sie mit pranischer Energie und weiten dadurch das Bewusstsein.
In körperlicher Hinsicht lernen wir durch die Mudras die Steuerung der nicht unter unserem Willen stehenden Organe, indem Nervenverbindungen und endokrine Drüsen stimuliert werden; auf diese Weise erlangen wir Meisterschaft über unsere Körperabläufe. Auf mentaler Ebene nähern wir uns unserem inneren Bewusstsein, innere Energien nehmen wir besser wahr und können unser Leben besser steuern.
Mudras reichen bedeutend weiter als die morgendliche Yogastunde. Wir formen Mudras mit jeder Handlung, jeden Augenblick in unserem Leben. Jede Handlung ist Symbol unseres tieferliegenden mentalen und physischen Zustands und zeigt die verschiedenen Energiemuster, die sich in unserem Innersten formen. Diese Muster bestimmen unsere Persönlichkeit, unseren Charakter, unsere Eigenheiten und unseren Ausdruck. So ist jeder Moment ein Ausdruck unserer inneren Natur.
Wenn wir Mudras nun bewusst formen, werden wir uns der inneren Energie mehr und mehr gewahr, lernen sie zu steuern, sodass wir jeden Augenblick voll leben. Auf diese Weise erlangen wir die Kraft, mit der Wahrnehmung umzugehen. Wir benutzen diese Wahrnehmung in allem, was wir tun.
Wenn wir uns z. B. unseres ganzen Körpers bewusst werden, können wir bewusst Mudras mit den Händen, Augen und dem ganzen Körper formen – während wir essen, gehen, reden, denken, spielen, Sport treiben usw. Die bewusste Wahrnehmung ist der Weg, jeden Moment im Leben auszuweiten und jede Handlung mit Energie aufzuladen.
Es gibt viele unterschiedliche Mudraarten – Hand-Mudras, Augen-Mudras, Körper-Mudras, Mentale-Mudras u. a. Immer ist es eine Geste, ein Signal für den Geist, sodass Körper und Geist in Harmonie gebracht werden und Energie freisetzen. Der Mensch ist wie eine Wasserzapfstelle, hinter dem ein ganzes Meer von Energien ruht. Wenn du sie öffnest, kommt ein klarer Wasserstrahl heraus.
Wenn diese Zapfstelle niemals benutzt wurde, wird das Wasser abgestanden und stagniert – im Menschen zeigt sich Krankheit. Man kann auch einen starken oder schwachen Fluss herstellen, je nach Bedarf und Fähigkeit. Wie nun können wir die Energie am besten anzapfen und wenn sie einmal geöffnet ist, wie können wir sie steuern?
Jede Zapfstelle hat einen Hahn, mit dem man den Ausfluss je nach Bedarf kontrollieren kann. Durch die verschiedenen Mudras können wir die Intensität und Richtung des Flusses korrigieren und dadurch die unterschiedlichen Körpersysteme regulieren. Wir können z. B. sowohl Ida wie auch Pingala stimulieren und sie in Balance bringen, sodass Sushumna aktiviert wird. Auf diese Weise erhalten wir eine gute Gesundheit.
Es ist nicht ratsam, die fortgeschrittenen Übungen ohne gute Anleitung zu versuchen. Sie sollten je nach individueller Fähigkeit und Notwendigkeit erlernt werden. Mudras sind Körperhaltungen, die die mentale Einstellung widerspiegeln, und das beeinflusst tiefgreifend unsere ganze Psyche. Es ist nicht ratsam, die Psyche zu beeinflussen oder eine Änderung zu versuchen, solange du nicht die für dich geeignete Richtung kennst. Wenn Mudras vom Guru oder einem kompetenten Lehrer vermittelt werden, haben sie folgende Wirkungen:
- Einige der Mudras steuern die nicht willentlichen physiologischen Körperabläufe, die normalerweise nicht in unserem Wachbewusstsein integriert sind.
- Durch sie entwickelt sich die Wahrnehmung der Pranaströme (Vitalenergie) im feinstofflichen Körper, und schließlich können wir diese Kräfte selber steuern. Das befähigt uns, willentlich Energie in jeden Teil des Körpers zu leiten – um uns selbst oder andere zu heilen.
- Mudras bereiten den Geist auf die Meditation vor, indem der Zustand von Pratyahara, das Zurückziehen der Sinne hergestellt wird und lässt einen sehr zielgerichtet werden.
- Viele der Mudras sind mit Asanas und Pranayama kombiniert, sodass die Wirkungen dieser Übungen hinzukommen.
- Spirituelle Wirkungen erwachsen.
Forschung über Mudras
Mudras wirken direkt auf Gehirn und Geist. Es ist bekannt, dass das Hirn aus zwei Hälften besteht, zwei Hemisphären, von denen jede für sich funktioniert. Die rechte Seite wird in Verbindung gebracht mit Intuition, ganzheitlichem Begreifen, Raumvorstellung, künstlerischem Ausdruck, handwerklicher Fähigkeit, Körpervorstellung u. a. Die linke Seite wird in Verbindung gebracht mit analytischem und logischem Denken, Zeit, Sprache und mathematischem Verständnis.
Sie sind mit einem Bündel von Nervenfasern, die den Namen Corpus Callosum haben, verbunden. Bei den meisten Menschen ist der Ablauf dieser beiden Hemisphären nicht harmonisch, nicht kohärent und synchron; das zeigen elektroenzephalographische Aufzeichnungen. Der Grund dafür liegt in mentalen und emotionalen Abläufen.
Wenn die Funktion der Hemisphären nicht harmonisch ist, führt das zu sinkender Intelligenz, Verstehen, Wahrnehmung, intuitiver Fähigkeiten usw. Durch Mudras können wir die beiden Seiten unseres Hirns in Synthese bringen, indem wir direkt auf das Nervensystem einwirken. Durch Mudras lernen wir, Schalter zu benutzen, die eine bewusste Steuerung aller Körperfunktionen möglich machen. Und dies ist ihre Arbeitsweise:
1. Physische Wirkung von Mudras
Jede Mudra stimuliert bestimmte Nerven, die ihre Botschaft zum Hirn senden. Diese Botschaften gelangen zu den Hirnzentren, die zum Reizpunkt zugeordnet sind. So ist z. B. jeder Finger mit einem bestimmten Teil des Hirns verbunden. Im Hirn belegt die Hand außerordentlich große Proportionen vom Hirnkortex. Kreisläufe, die zwischen dem Daumen und jedem der Finger hergestellt werden, haben also eine große Wirkung auf das Hirn. Jeder muss das selber bei sich erfahren.
Wenn die Hände in bestimmter Weise ineinander gelegt sind, werden die neuronalen Kreisläufe über einen längeren Zeitraum angeregt, was den speziellen Effekt des Mudras auf das Hirn verstärkt. Dies ist eine bewusste Handlung. Wenn beide Hände, die rechte und die linke, das Hirn stimulieren, so ist die Wirkung die, dass die beiden Hemisphären unter unsere bewusste Kontrolle gelangen.
Die stimulierten Kreisläufe gelangen in unsere bewusste Wahrnehmung. Wenn das lange genug wiederholt wird, sagen wir über Wochen oder Monate, dann wird diese feine Handlung immer bewusster, sodass wir auch mehr und mehr der Wirkung gewahr werden. Eine Mudra macht uns also stark und fördert ein inneres Wissen. Die beiden Hemisphären werden so koordiniert, dass die beiden Seiten harmonisch miteinander arbeiten.
2. Energetische Wirkung von Mudras
Durch Kirlian Fotografie konnte gezeigt werden, dass aus den Fingern Energie in Form von Leuchtsignalen auflodert. Diese Energie hängt ab von Gesundheit, Laune, Wetter u.a. Wenn die Finger sich berühren, wird ein Kreislauf hergestellt, der es möglich macht, dass Energie, die sich sonst verflüchtigt hätte, nun in den Körper zurückfließt auf dem Wege der Nadis, der Energieleitungen.
Die Wirkungen auf den Pranakörper richten sich nach den Kreisläufen, die stimuliert wurden. Es kann jetzt Energie in erhöhter Menge nach innen reisen, die Wahrnehmung in der Meditation erhöht sich. Außerdem stimulieren einige Mudras die Chakras; z.B. Maha Mudra. Dadurch gelangt Energie direkt zum Hirn und zum Geist.
Durch Mudras erlangen wir die Fähigkeit, unseren Körper zu manipulieren, und wir können Energie auf bestimmten Wegen, von denen einige wichtiger sind als andere, entlang senden. So stimulieren wir mit Prana Mudra fünf verschiedene Pranaunterteilungen im Körper. Wenn der Daumen den Zeige- und Mittelfinger berührt, wird 'Apana' stimuliert, die Energie, die unterhalb des Nabels regiert.
Wenn der Daumen den Ring- und Mittelfinger berührt, wird 'Udana' stimuliert; diese Energie regiert von der Krone des Kopfes bis zum Hals. Wenn der Daumen den kleinen und den Ringfinger stimuliert, wird Prana stimuliert, die Energie, die oberhalb des Zwerchfells und unterhalb des Halses regiert. Wenn wir die Energien auf diese Weise steuern können, hat das Rückwirkungen auf das pranische Heilen.
3. Mentale Wirkungen von Mudras
Die Augen sind mit dem Okzipitalteil des Kortex verbunden, dem Teil des Hirns, der im Hinterkopf liegt. Durch Shambhavi oder Nasikagra Mudra wird der Alphawellenzustand verstärkt; dieser Zustand erlaubt subjektive Erfahrungen von entspannter Wahrnehmung und spontaner Kreativität. Wenn man lange genug in diesem Mudra verharrt, dann wird es zu einer Konzentrations- bzw. Meditationstechnik.
Aber dies sollte mit Anleitung geübt werden. Versuche haben gezeigt, dass durch Meditation die intellektuellen Abläufe im vorderen Hirn sich entspannen und kann angewandt werden, um psychologische Störungen wie Manie (Zwangsvorstellungen), Hysterie, Depression, Angstneurose und Angst u. a. zu kurieren. Wir erlangen durch die Übung Kontrolle über unsere Gedanken und höhere mentale Abläufe.
Durch Konzentration und Integration des Geistes können viele latente und unbenutzte Hirnkreise in unsere bewusste Wahrnehmung geholt werden. Psychologische Probleme und unbewusste Neurosen verlieren ihre Kraft, mit der sie unser ganzes Leben beeinflusst haben. Wir setzen also negative Energie frei, die vorher in Form von emotionalen Problemen im Hirn und Geist festgesetzt waren und ersetzen sie durch positive, kreative und lebenserhaltende Gewohnheiten und Fähigkeiten.
Wenn wir Mudras formen, passieren diese Abläufe alle gleichzeitig, denn physische, pranische und mentale Aspekte hängen miteinander zusammen. Die Wirkung ist vollkommen, sehr subtil, und äußerst stark. Sie haben eine wundervolle Wirkung auf das Bewusstsein, die man jedoch selbst erleben muss, um es zu verstehen. Aber es soll noch mal betont werden, dass man die Mudras nur dann verstehen kann, wenn man langsam an die Übungen herangeht und sich einführen lässt.
Auf diese Art wirst du lernen, deine herumschwirrenden Gedanken und Handlungen zu integrieren, sodass das Leben ein anmutiges Fließen und Verstehen wird. Dein ganzes Wesen kann zu einem Mudra werden, einer inneren Lebensgeste, die in dein äußeres Leben reflektiert. So sind Mudras sehr praktisch und gleichzeitig ein Weg, dein Leben zu verändern.
Weitere Informationen über Mudras findest du in den Büchern Asana Pranayama Mudra Bandha, Meditationen aus den Tantras und Yoga Darshan.
(Aus: Yogaheft 11) - von Dr. Swami Shankhadevananda Saraswati, Yoga Magazine, März 1979